Die Route wird neu berechnet
Dass Kultur unter freiem Himmel erlebt werden kann, ist in Hildesheim nichts Neues. Das beweisen aktuell die Heersumer Sommerspiele oder der anstehende Pflasterzauber und das war auch jüngst wieder beim Festival M‘era Luna zu erleben.
Durchaus ungewöhnlich ist aber das, was sich am 28. August auf dem Burgberg in Detfurth ereignet hat. Dort, wo sich einst die Landtage des Fürstentums Hildesheim versammelten, kamen der Kreistag sowie die Räte der Stadt und aller übrigen kreisangehörigen Kommunen zusammen, um sich in einer beeindruckenden Kulisse gemeinsam für die Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas 2025 auszusprechen. Die Städte und Gemeinden der Region sind sich in dieser Hinsicht so einig wie sonst selten. Aber natürlich geht es bei der gemeinsamen Bewerbung nicht schlicht um eine teambildende Maßnahme. Es geht um das erklärte Ziel, die Region langfristig erfolgreich voranzubringen und sich eben nicht einem vorgezeichneten Schicksal zu ergeben.
Viel wurde im Vorfeld der Bewerbung diskutiert – über Chancen und Risiken, über Kooperationen, über Notwendigkeiten und immer wieder auch über Geld. Doch letztlich kamen alle Gremien zu ein und demselben Entschluss: Wer, wenn nicht Hildesheim? Und wenn nicht jetzt, wann dann?
Die Stadt Hildesheim hat in den vergangenen Jahrzehnten einige herbe Rückschläge hinnehmen müssen. Die Schließung von Kasernen, die Insolvenz bzw. der Rückzug großer Unternehmen und damit der Wegfall von zahlreichen Arbeitsplätzen und wichtiger Gewerbesteuereinnahmen haben uns in eine wirtschaftliche Schieflage gebracht. Hildesheim muss spätestens seit den 1990er Jahren mit einem strukturellen Defizit umgehen. Die Folgen waren eine eklatant hohe Verschuldung und strikte Sparzwänge, unter denen wir alle gemeinsam bis heute zu leiden haben.
Unter diesen Voraussetzungen ließen sich über lange Zeit weder Schulen noch Straßen in ausreichendem Maße bauen oder sanieren. Es fehlte und fehlt auch heute noch so oft schlicht das nötige Geld. Für solch unabdingbare Investitionen sind wir also permanent auf Unterstützung von Bund und Land angewiesen. Und freiwillige Leistungen sind ohnehin auf ein Mindestmaß gedeckelt, was vor allem die Bereiche Kultur, Sport und Soziales zu spüren haben und wir alle natürlich z. B. auch bei der Grünflächenpflege oder der Stadtreinigung sehen. Das ist zweifellos eine unbefriedigende Situation, auch wenn wir sagen dürfen, dass wir in den letzten Jahren bereits viel erreicht haben und einen erheblichen Teil unserer Verschuldung zurückführen konnten. Um diesen eingeschlagenen Weg weiter gehen zu können, brauchen wir nun aber Möglichkeiten, mit denen wir die Region langfristig und zukunftsorientiert auf eine sichere, bessere Basis stellen können. Es wird also Zeit, dass die Route Hildesheims neu berechnet wird.
Wenn dies mit Kulturformaten gelingen kann – umso besser. Denn Hildesheim ist seit jeher eine Kulturstadt: Mit einzigartigen kulturwissenschaftlichen Studiengängen und einer starken freien Kulturszene haben wir uns bundesweit einen Namen gemacht, Touristen und Gäste besuchen unsere Stadt in erster Linie aufgrund herausragender Kulturstätten. Die Kulturhauptstadt Europas ist also ein Programm, das wie für Hildesheim geschaffen ist.
Sollten wir den Titel tatsächlich nach Hildesheim holen, würden Fördermittel in zweistelliger Millionenhöhe in unsere Region fließen, die uns in die Lage versetzten, Stadtviertel aufzuwerten und die Lebensqualität in unserer Region weiter zu steigern. Denn anders als z. B. bei großen Sportevents geht es nicht darum, riesige Veranstaltungshallen oder Stadien zu bauen, die danach womöglich nicht mehr gebraucht würden bzw. völlig überdimensioniert wären. Vielmehr geht es darum, in bestehende Strukturen zu investieren und funktionierende Netzwerke zu stärken.
Begonnen haben wir damit schon jetzt: In Zusammenarbeit mit Kulturschaffenden, mit Sozialeinrichtungen, mit Hochschulen, mit Wirtschaftsexperten, mit Sportvereinen und Initiativen der Jugendpflege und mit Religionsgemeinden hat das Projektbüro Hi2025 ein künstlerisches Konzept entwickelt, das lokal und unter Einbindung der Bevölkerung umgesetzt werden soll; das sich aber gleichzeitig mit Themen und Herausforderungen befasst, die überall in Europa eine Rolle spielen. Die Kernfragen lauten dabei immer wieder: „Wie wollen wir in Zukunft leben?“, “Welche Werte sind uns wichtig?“, “Wie gehen wir mit Umbrüchen und Veränderungen in der Gesellschaft um?“ und „Wie können wir neue Entwicklungen und Technologien für eine klimafreundliche und nachhaltige Zukunft nutzen?“ Dies sind Fragen, mit denen wir uns ohnehin befassen müssen, auch wenn wir nicht Kulturhauptstadt werden. Aber der Titel könnte positive Veränderungsprozesse deutlich beschleunigen, denn neben den zu erwartenden Fördermitteln würde uns dieser v. a. mehr Selbstvertrauen geben und das Gefühl des Zusammenhalts stärken. Ein Gefühl, das wir 2015 schon mit dem Tag der Niedersachsen und dem Stadtjubiläum erfahren durften und das wir in Zeiten von Abgrenzungstendenzen heute so sehr brauchen.
Und natürlich würde uns der Titel auch europaweit bekannter machen. Davon würden allen voran gastronomische und touristische Einrichtungen, der Einzelhandel und hiesige Unternehmen profitieren. Vor allem aber erhielte Hildesheim dadurch die Chance, sich als Ort junger Kultur und Kunstproduktion auch langfristig auf der Landkarte zu positionieren und dank des europäischen Austausches und der Förderung der kulturellen Vielfalt und Verständigung kulturelle und gesellschaftliche Teilhabechancen für breitere Bevölkerungsschichten zu eröffnen.
Die Kulturhauptstadt Europas ist damit v. a. ein riesiges Förderprogramm, bei dem wir selbst nur einen vergleichsweise geringen Anteil leisten müssen, der auch erst und nur dann investiert werden muss, wenn Hildesheim tatsächlich auch den Zuschlag erhält. Die Frage, ob Hildesheim nicht ein Risiko eingehe, können wir somit klar verneinen. Klar ist: 2025 wird es eine deutsche Kulturhauptstadt geben. Klar ist damit auch: Wir haben genau jetzt und nur jetzt die Gelegenheit, diese Chance zu nutzen, dass der Titel mit all seinen Vorteilen nach Hildesheim kommt und die Route unserer Stadt tatsächlich neu berechnet wird.